

Zwischen Weihrauch und Wirklichkeit
Es gibt Orte auf dieser Welt, die den Atem anhalten lassen, noch bevor man sie richtig betreten hat. Die jahrhundertealten Kirchen Äthiopiens gehören zweifellos dazu. In den Felsen gehauen, schattig, kühl, voller Geschichte und Gebete. Räume, in denen die Zeit zögert und die Schritte leiser werden, als wollten sie den Staub der Jahrhunderte nicht aufscheuchen.
Auf meiner letzten Fotoreise führte mich der Weg erneut in diese heilige Labyrinthe aus Stein. Die Architektur ist beeindruckend, aber die Menschen darin – Priester, Mönche, Wächter des Glaubens – verleihen diesen Räumen ihre eigentliche Seele. Fotografisch sind sie ein Traum. Menschlich oft inspirierend. Und gelegentlich… überraschend.
Wie ich es überall auf meinen Reisen mache, habe ich mich mit ihnen unterhalten. Lange, neugierige Gespräche über Glaube, Traditionen, Alltag. Und während wir eine Kirche nach der anderen betraten, entstand in mir ein spielerischer Gedanke. Ein kleiner „philosophischer Feldversuch“.
In jeder Kirche stand eine Spendenbox für den Erhalt der Anlage – ein solides Metallkästchen mit einem Schlitz, wie man es in heiligen Räumen erwartet. Und in jeder Kirche saß ein Priester direkt dahinter. Als würde er darüber wachen, dass die Gaben der Gläubigen dorthin gelangen, wohin sie gehören.
Das dachte ich zumindest.
Denn jedes Mal, wenn ich mich dem Kästchen näherte, geschah dasselbe Schauspiel: Ein leises Rascheln, ein diskretes Heben der Augenbraue – und dann schob sich eine Hand zwischen mich und die Spendenbox. Der Priester deutete wortlos, aber sehr klar, an, dass meine Gabe doch wohl besser ihm persönlich zugutekommen sollte. Nicht der Kirche. Nicht dem Gebäude. Sondern dem Menschen im heiligen Gewand.
Dieses Muster wiederholte sich. Ohne Ausnahme. Beim ersten Mal amüsierte es mich. Beim zweiten Mal wunderte es mich. Beim fünften Mal wurde klar: Ich war mitten in einem unfreiwilligen Sozialexperiment gelandet.
Natürlich bekamen alle Priester und Mönche, die wir fotografieren durften, ein Trinkgeld. Dankbarkeit gehört zu meinen wichtigsten Reisebegleitern. Doch die konsequente Umleitung der Spenden in die Hände der Priester war äußerst auffällig.
Es erinnerte mich daran, dass der Mensch, egal in welchem Gewand er steckt, selten ein Wesen reinen Lichts ist. Wir alle tragen die Sehnsucht nach einem angenehmen Leben in uns. Auch jene, die im Namen des Göttlichen handeln. Zwischen Himmel und Erde fließt nun einmal auch das profane, weltliche Geld.
Und so wurde mir in diesen heiligen Hallen erneut bewusst: Die Welt der Gläubigen unterscheidet sich weniger von der Weltlichen, als man glauben möchte. Der Unterschied liegt oft nur im Kostüm.
Doch das Schöne ist: Auch dort, wo das Menschliche über das Heilige stolpert, bleibt die Erfahrung reich. Humorvoll. Lehrreich. Und zutiefst fotografisch.
Das Leben ist zu kurz für aufgeschobene Pläne, Ausreden und mittelmäßige Fotoreisen!
