

Ich bin nun seit Tagen unterwegs – zu Fuß, auf zwei Rädern, mit ratternden Trams und durch Tunnel röhrenden Metros. Mein Schritt hat sich dem Pflaster angepasst, mein Blick den bunten Fliesen. Ich bin langsam dabei, mich in einen portugiesischen Pflasterstein zu verwandeln – allerdings in einen, über den täglich tausend Touristen trampeln.
Denn eins steht fest: Ich bin nicht allein.
In Lissabon läuft man selten allein. Außer vielleicht, man verirrt sich nachts auf einen Friedhof oder in eine Seitengasse der Alfama, die selbst Google Maps für ein Paralleluniversum hält. Ansonsten ist man immer in Gesellschaft: von Amerikanern mit Selfiestick, Deutschen mit Wanderschuhen, Franzosen mit Stilgefühl, Niederländern mit Leichtigkeit – und irgendwo dazwischen: ich. Der nachdenkliche Benny mit Handykamera in der Hand und einem halben Pastel de Nata im Mundwinkel.
Der Souvenir-Klon.
Man könnte meinen, die Stadt habe einen Copy-&-Paste-Knopf für Souvenirläden erfunden. Ich schwöre: Wenn man einen Kühlschrankmagnet mit einem sardinenförmigen Tram-Motiv kauft, findet man irgendwo tausende Klone davon in der nächsten Straße. Es ist wie ein Algorithmus aus Touri-Träumen: Magnete, Korkportemonnaies, handbemalte Kacheln – Made in China, aber mit alma portuguesa. Die Essenz Lissabons, abgefüllt in Regalen, verpackt für den Flug.
Ich warte nur noch auf den ersten Laden, der „authentische Touristen“ verkauft. Wahrscheinlich in Lebensgröße, mit Sprüchen wie „Oh wow, die Azulejos sind ja echt aus Fliesen!“.
Der leise Abschied der Einheimischen.
Man fragt sich bald: Wo sind eigentlich die Portugiesen?
Man sieht viele Gesichter, hört viele Sprachen – aber selten die leise Melodie des Portugiesischen. Stattdessen ertönt ein multikulturelles Babel, das sich durch die Gassen schiebt, Cocktails schlürft und Tapas isst, die es hier eigentlich gar nicht geben sollte.
Viele Häuser sind leer, obwohl sie voll aussehen. Voll mit Airbnb-Gästen, leer an Leben. Wo früher die Großmutter mit Kittelschürze durch den Hausflur schlich, öffnet jetzt ein Brite mit Sonnenbrand seine Balkontür – auf der Suche nach WLAN.
Und wenn man sich die Immobilienpreise ansieht, glaubt man seine Augen kaum. Die Mietpreise und Kaufpreise sind hier in Lissabon erheblich teurer als in Hannover, wo ich wohne, obwohl der Durchschnittsportugiese weniger als der Durchschnittsdeutsche verdient.
Und was bleibt?
Vielleicht ist Lissabon die erste Stadt, in der ich nicht weiß, ob ich sie gerade besuche – oder ob sie mich gerade testet. Ich streife durch Viertel, die so tun, als wären sie noch authentisch. Graffitis, die früher Protest waren, sind heute Teil der Stadtführung. Cafés mit handgeschäumtem Cappuccino und WiFi, benannt nach Seefahrern, die nie Kaffee getrunken haben.
Und ich frage mich: Wer passt sich hier wem an?
Die Stadt mir – oder ich der Stadt?
Tourismus hat etwas Paradoxes: Wir reisen, um das Echte zu finden. Und mit unserer bloßen Anwesenheit machen wir es ein bisschen unechter. Wir wollen das Leben spüren, das nicht für uns gemacht ist – und sobald es für uns gemacht wird, spüren wir es nicht mehr.
Es ist, als wolle man einem Schmetterling ein Selfie entlocken. Sobald man ihn fixiert, flattert das Wesen davon.
Die stille Romantik der Nebensaison.
Vielleicht liegt die wahre Romantik Lissabons in den Tagen, an denen es regnet. Wenn die Kreuzfahrttouristen noch schlafen, die Straßenverkäufer ihre Tücher trocken halten und der Blick auf den Tejo ganz allein dir gehört. Dann hört man sie: Die Stadt. Nicht laut. Sondern leise. Ein melancholisches Summen, das klingt wie ein Fado aus dunklen Bars.
Dann denk ich mir: So fühlt sich Heimat an. Vielleicht nicht meine – aber eine. Und das ist doch schon ziemlich viel.
Denn ist Heimat nicht der Ort, an dem man kurz innehalten möchte – bevor man sich wieder verliert?
Die große Frage (und die kleine Pointe)
Also, ist der Tourismus jetzt ein Fluch?
Oder ein notwendiger Engel mit Rollkoffer?
Die Wahrheit liegt – wie immer – irgendwo dazwischen. Zwischen dem grellen Magnet im Souvenirshop und der Großmutter, die nicht mehr da wohnt. Zwischen der Freude eines Kellners über ein gutes Trinkgeld und dem Frust eines Einheimischen, der seine Wohnung nicht mehr bezahlen kann. Zwischen dem Goldglanz der Instagram-Bilder und dem bleichen Gesicht des Gentrifizierten.
Ja, der Tourismus ist Fluch und Segen zugleich. Der bringt Reichtümer ins Land, aber eben nicht für alle.
Ich, Benny, bin mittendrin – als Fußnote auf dem Bürgersteig.
Aber vielleicht, ganz vielleicht… bin ich auch ein Komma. Kein Punkt, kein Ausrufezeichen – nur ein Komma, das die Geschichte weiterschreibt.
Und wenn du das nächste Mal in Lissabon bist, geh nicht nur die Hügel rauf. Geh auch mal gegen den Strom. In eine Bar, wo keiner Englisch spricht. In ein Viertel, das keinen Namen auf der City-Map hat. Trink einen Kaffee, ohne ihn zu fotografieren. Und schau den Menschen zu, die hier leben – nicht denen, die nur kurz vorbeischauen.
Dann, ja dann, wird Lissabon dir antworten.
Nicht in Worten.
Aber im Wind.